Ist das krank oder kann das weg?

„Es ist schwer, jemandem zu erklären, was eine Depression ist, der noch nie eine hatte. Es ist, als würde man einem Alien das Leben auf der Erde erklären. Es fehlen einfach die Bezugspunkte. Man muss sich mit Metaphern helfen. 

Du steckst in einem Tunnel fest. 

Du bist tief unter Wasser. 

Du brennst lichterloh. 

Vor allem ist da die Intensität. Sie sprengt die normale Skala der Emotionen. Wenn du drinsteckst, steckst du richtig drin. Du kannst nicht aus der Depression raustreten, ohne aus dem Leben rauszutreten, denn sie ist das Leben. Sie ist dein Leben. Jede einzelne deiner Wahrnehmungen und Handlungen wird durch die Depression gefiltert. Und vergrößert. Im Extremfall können Dinge, die ein normaler Mensch kaum bemerken würde, überwältigend sein.“

aus „Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben“ von Matt Haig

Das trifft es ziemlich genau. 

Dinge, die für den einen rational zu erklären und zu bewältigen sind, stellen für den Erkrankten unüberwindbare Hürden da. Fragen, was du anziehen sollst, ob du lieber mit dem Rad oder dem Auto fahren sollst, ob du überhaupt zur raus kannst, die Wahl eines Restaurants für eine Verabredung, ob du dich überhaupt verabreden sollst oder ob du überhaupt ans Telefon gehen kannst, stellen einen riesengroßen Berg an Fragezeichen dar. Jede einzelne Frage ist Anlass für exzessives Grübeln, zu dem sich auch noch immer mehr gesellt, als die eigentliche Fragestellung. Es ist unglaublich, wie verschachtelt das eigene Denken werden kann, wenn es ins depressive Grübeln abrutscht. Und es ist erschreckend, dass es kein Ende nimmt, egal wann oder wo und egal, wie müde du bist.

Weil ein Abschalten schlichtweg nicht möglich ist. 

Wie lange kann man dafür brauchen, die Socken auszusuchen? Sie könnten zu kalt sein, sie könnten im Schuh rutschen, sie könnten ein Loch haben, das du noch nicht bemerkt hast. Überhaupt ist dir ständig kalt. Was kein Wunder ist, denn wenn du kaum noch schläfst, ist dein Körper irgendwann auch rein physisch im Extremzustand und wehrt sich mit allen Stresssymptomen, die er zur Verfügung hat. Kälte ist da ein großes Thema. Denn die äußerliche Kälte fühlt auch noch zu einem Unwohlsein in einer Situation, in der alles um dich herum und besonders in dir drin schon ungemütlich ist. 

Das ständige Grübeln treibt dich in dich hinein. Wenn du es dann nicht einmal mehr schaffst, das Grübeln bei einer Anti-Grübel-Übung abzustellen, dann ist guter Rat teuer. Was folgt ist erneutes Grübeln, warum du so viel grübelst. Ständiges Gedankenabschweifen ist körperlich irgendwann mindestens genauso anstrengend wie ein Ausdauerlauf. Ist ja auch einer, halt nur im Kopf. 

Hier könntest du nun rational reagieren, wenn dir das möglich wäre. Aber von rationalem Denken und Empfinden bist du schon lange sehr weit entfernt. Augen zu und durch wäre hier ein Weg. Aber das machst du ja eigentlich schon die ganze Zeit. Du gehst da irgendwie durch. Was bleibt auch anderes übrig?

Das kann niemand anders für dich tun. Egal, wie sehr du dir auch wünschst, dass da jemand ist, der dir Entscheidungen abnimmt, dir wieder ein bisschen Leichtigkeit geben kann oder der es schafft, dass du dich wieder auf etwas freuen kannst. Es kann dir niemand etwas abnehmen, was du selbst kaum tragen kannst, es kann dir niemand etwas geben, was du dir selbst sofort nicht wieder nehmen könntest. Und du nimmst es dir, warum auch immer.

Matt Haig schreibt in seinem Buch weiter: 

Was dich nicht umbringt, macht dich stark. Nein. Denn das stimmt nicht. Was dich nicht umbringt, macht dich sehr oft schwächer. Was dich nicht umbringt, lässt dich für den Rest deines Lebens humpeln. Was dich nicht umbringt, kann dir solche Angst machen, dass du das Haus nicht mehr verlässt, nicht mal dein Zimmer, sondern nur unverständlich vor dich hinstammelst, die Stirn an die Fensterscheibe drückst und dir wünschst, du könntest die Zeit zurückdrehen zu dem Tag, bevor diese Sache, die dich nicht umgebracht hat, passierte.“

Alles, was nahe dran ist, dich umzubringen hinterlässt Narben. Nicht alle Narben sind sichtbar. Die unsichtbaren Narben sind immer die tiefsten. Narben heilen nicht, sie können vielleicht an der ein oder anderen Stelle weniger schwulstig sein, vielleicht sind sie nur ein dünner weißer Strich, vielleicht sind sie aber auch groß und stehen ab. Egal wie sie aussehen, sie sind da. Und sie gehen nicht weg. Sie plagen dich immer wieder, egal, wie oft du sie eincremst, damit sie weich werden. Narben sind kaputtes Gewebe. Ab einem gewissen Punkt des Grübelns, der Traurigkeit und der Hoffnungslosigkeit bestehst du hauptsächlich aus kaputtem Gewebe. Weil die Depression dich voll und ganz im Griff hat. Weil es für dich nichts anderes mehr gibt als die Traurigkeit und für andere kein Rankommen mehr an dich. 

Es ist schwer, all diese Dinge zu erklären. Vielleicht geht es am besten damit, dass das Gehirn nicht mehr so funktioniert, wie es sollte. Weil etwas einfach nicht zu können geht in ein normal denkendes Gehirn nicht rein. 

Depressive Menschen sind verrückt. Nicht im Sinne von durchgedreht, gaga oder was auch immer. Etwas in uns ist verrückt, es ist nicht an seinem Platz, nicht da wo es sein sollte. Dieses Etwas müssen wir erst suchen und finden, dann muss der richtige Platz dafür wieder gefunden werden, damit die Verrücktheit ein Ende finden kann. 

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