Lotte

Oder: wie das Leben bereichert, wenn Herz und Sinne offen sind.

Ich stehe am Bahnhof und warte auf meinen Zug, als mich Lotte anspricht. Sie fragt mich mit leiser Stimme wo der Zug, der eine Stunde später fahren sollte, losfährt und ob der wirklich in einer Stunde käme. Ich muss mich zu ihr herunterbeugen, um sie zu verstehen. Sie sagt mir, wo sie hin muss und ich erkläre ihr, dass die Züge dorthin jede halbe Stunde fahren und sie am richtigen Gleis steht. Der nächste komme schon in 10 Minuten. Spontan entscheidet sie, den früheren Zug zu nehmen. Wir haben den selben Weg, also beschließe ich, in ihrer Nähe zu bleiben.

Sie bleibt neben mir stehen und sagt mir, dass sie immer ein bisschen Angst hat. Sie sei vor 50 Jahren deswegen schon mal zu einem Therapeuten gegangen. Ich rechne, aber sie antwortet auf meine stumm in der Luft hängende Frage und sagt mir, dass sie 92 Jahre alt sei. Keinen Tag älter als 78, sage ich ihr und wir lachen beide. 

Die Angst sei geblieben, sagt sie. Trotz Therapie, vielleicht wäre die damals auch noch nicht so gut wie heute gewesen. Aber das sei in Ordnung, weil sie halt eben auch viel erlebt hat in ihrem Leben. Ich kenne das gut. Das mit der Angst und mit dem Erleben. 

Lotte will die Enkelin ihrer Schwester besuchen, die habe gebaut und nun ein Baby bekommen und alle zum Frühstück eingeladen. Niemand hatte Zeit, sie abzuholen und so würde sie halt mit dem Zug hinfahren. Wird schon irgendwie klappen, auch wenn da immer ein bisschen Angst mitfährt. Aber die Angst zu überwinden ist wichtig, sagt sie, auch wenn sie weiter mitfährt. Ich nicke und überlege, wie oft ich in meinem Leben meine Ängste überwunden habe. Und wie viel im Leben daraus besteht, Ängste überwinden, Dinge trotzdem machen, sie dann zu genießen oder eben aus ihnen lernen. Die Überwindung von Ängsten ist immer ein Wachstum, das sich lohnt. So viel kann ich schon sagen und bis 92 habe ich hoffentlich noch ein bisschen Zeit. 

Sie sieht nicht gut, deshalb muss sie immer mal wieder jemanden ansprechen, sagt sie. Ist doch ein guter Weg, um sich zurechtzufinden, finde ich. Sie wohnt in einer Einrichtung für Betreutes Wohnen. Da gefällt es ihr ganz gut. Seit zwei Jahren sei sie dort und sie habe schon einen gewissen Ruf, erzählt sie mir. Weil sie die anderen immer antreibe, nennt man sie dort „Lottemotive“. Ich lache und sage ihr, wie sehr ich diesen Spitznamen mag. Sie sagt, dass sie ein bisschen stolz drauf ist, weil sie eben nicht im Sessel sitzen und auf die Mahlzeiten warten kann. So wie die anderen in der Einrichtung. Aber manchmal wäre es auch anstrengend, dann ziehe sie auch gerne mal alleine los. Genau so ist’s richtig, sage ich. Was sie dann mache, frage ich sie und sie sagt, sie ginge viel spazieren oder auch mal ins Café. Mit der Sehkraft ginge nicht mehr so viel, aber das sei nunmal so, sagt sie, zuckt mit den Schultern, lächelt aber dabei. Lotte hatte viermal einen Tumor am Auge, dabei wurde der Sehnerv beschädigt. Aber für Spazieren reicht’s noch, sagt sie. Und für Bahnfahrten in die Pampa, sage ich und ziehe meinen Hut vor dieser Frau. Wie schon oft in unserer kurzen Bekanntschaft. 

Der Zug kommt und ich suche uns einen guten Platz. Sie freut sich, dass ich bei ihr bleibe. Und sie freut sich, dass ich ihr zuhöre. Das machen die Menschen heute nicht mehr so gerne, sagt sie. Gerade wenn es um den Krieg geht. Sie hat das alles erlebt. Die Bomben, den Hunger, die Angst. Je älter sie werde, um so mehr kehren die Erinnerungen zurück, meint Lotte. Ich weiß, wovon sie spricht, wenn auch mit anderen Bildern. Je mehr die Jahre fortschreiten, um so mehr holt uns immer wieder immer unser Leben mit all seinen Erfahrungen und Erlebnissen ein. Erst recht, wenn diese einschneidend waren und einen tiefen Abdruck hinterlassen haben. 

Ich erinnere mich an meine Schul- und Ausbildungszeit, in der ich viele Jahre in einem Altenheim gearbeitet habe und in der ich viele Geschichten über den Krieg gehört habe. Mir war und ist es immer wichtig, hier zuzuhören, aus vielen Gründen. Weil es gar nicht mal so uninteressant ist. Weil es so fernab meiner eigenen Welt ist, das ich mir schlichtweg nicht vorstellen kann, wie es ist, in Hunger und Angst zu leben. Weil ich finde, dass diese Geschichten erzählt und gehört werden müssen, um das Leben, das man hat, zu schätzen. Und weil ich es wichtig finde, dass die Menschen ihre Geschichten erzählen können, denn das ist Teil des Verarbeitungsprozesses. Krieg, Zerstörung, Hunger und Nöte führen zu unverarbeiteten Traumata, die über Generationen weitergegeben werden können, selbst wenn die Nachkommen im Frieden leben. Darüber sprechen zu können, ist immer ein wichtiger Teil bei der Verarbeitung von Traumata. Schweigen führt zu Verzweiflung in der Stille, zur Zerstörung der Seele und zum Verlust der Kontrollfähigkeit im eigenen Leben. Ich habe das jahrelang getestet. Das Sprechen über die erlittenen Dinge macht diese real und reale Dinge können verarbeitet werden. Ich glaube nicht, dass ein tiefes Trauma in Gänze geheilt werden kann. Aber darüber sprechen zu können, ist ein Anfang in Richtung Akzeptanz der Dinge, egal auf welcher Ebene. 

Lotte erzählt mir von der Zeit in Köln während des Krieges. Von ihrer Flucht. Natürlich nicht in der Tiefe, aber sie reißt es immer wieder an und ich merke, wie sehr es in ihr arbeitet. Auch die Tatsache, dass so wenige ihr dabei zuhören wollen. Wir reden über verschiedene Dinge, aber der Krieg ist immer dabei. 

Ihren Sohn hat sie an den Krebs verloren, als er 18 Jahre alt war, ihr Mann sei auch schon vor vielen Jahren verstorben. Sie hatte eine Kette, die sie an ihn erinnerte. Aber die wurde ihr vor einiger Zeit auf der Schildergasse von zwei Frauen gestohlen. Genauso wie ihr Haushaltsgeld, nachdem sie es abgehoben hatte und vor der Bank Männer herumlungerten, die es genau auf solche Situationen abgesehen hatten. Das ist für mich schwer auszuhalten.
In diesem Moment versucht uns ein falscher Obdachlosenzeitungsverkäufer seine Zeitung im Zug anzudrehen. Er drückt Lotte die Zeitung einfach in die Hand und fordert sofort Geld dafür. Lotte versteht die Situation nicht, ist hilflos. Ich nehme ihr die Zeitung aus der Hand, gebe sie dem Mann wieder zurück und fordere ihn auf zu gehen. Er wird zudringlicher, will Geld von Lotte und versucht unsanft, ihr die Zeitung wieder in die Hand zu geben. Lotte weiß gar nicht, was sie tun soll. Ich denke kurz darüber nach, wie es wäre, wenn ich nicht dort wäre. Sein Verhalten und Lottes Geschichten von den Diebstählen machen mich ärgerlich. Ich werde nachdrücklicher, schiebe ihn weg. Er schimpft und trollt sich und ich erkläre Lotte, warum sie bei solchen Dingen aufpassen muss. Sie sagt, sowas erschrecke sie. Mich auch, sage ich. Menschen machen mich manchmal müde, sage ich und sie findet, das wäre nur das Leben, das manchmal müde mache. Wir einigen uns auf eine Mischung aus beidem. 

Wir sprechen auch über Dankbarkeit. Ich sage ihr, dass ich viel erlebt habe und lerne, das Leben mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Nachsicht zu sehen. Das ist manchmal nicht einfach, aber der Weg wird klarer. Und dass es immer Mut braucht, um durch die Welt und das Leben zu gehen. Egal, ob mit 45 oder mit 92. Sie sagt, mutig wäre sie immer gewesen und ich habe absolut keinen Zweifel daran. Wer mit 92 allein im Zug durch die Weltgeschichte gondelt, dabei schlecht sieht und nicht mal einen Hauch Ärger darüber hat, dass sie niemand abholt, das ist ne Superheldin, sage ich ihr. Eine Heldin sei sie nicht, dafür habe sie nichts getan, meint Lotte. Eine Heldin ist nicht nur, wer andere rettet, sondern wer auch sich selbst rettet, sage ich ihr, also sei sie nicht nur Lottemotive, sondern eben auch Super-Lotte. Jedenfalls für mich. Punkt. Sie lacht und ich mag das sehr. 

Wir steigen irgendwann aus und ich könnte noch stundenlang mit ihr weiterreden. Was sie jetzt mache, sie sei doch eine Stunde zu früh, frage ich sie. Kaffeetrinken sagt, sie. Vielleicht so einen Kaffee mit einem Eiswürfel drin, das fände sie ganz lecker. Ich wünsche ihr, dass sie einen großen Eiswürfel bekommt und habe das dringende Bedürfnis, Lotte zu umarmen. Ist mir aber zu übergriffig, also sage ich ihr, dass sie auf sich aufpassen soll, genau so wie sie es schon seit 92 Jahren tut. Mir scheint, sie macht das schon ganz gut. Und dass sie einen schönen Tag haben und später gut wieder nach Hause kommen soll. Sie wünscht mir, dass ich so bleiben soll wie ich bin und dankt mir, dass ich ihr zugehört und mich um sie gekümmert habe. 

Mein Herz ist während unseres Zusammentreffens ganz leicht. Lotte hat mir eindrücklich klargemacht, wie wichtig es ist, den Kram, den man sich mit sich herumschleppt, zu verstehen und zu verarbeiten. Sie hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir reden. Denn nur so können wir uns selbst annehmen, unsere Defizite verstehen und unser Leben achtsam in Dankbarkeit, Liebe und Verständnis leben. Nicht in der Art und Weise, wie uns Good Living-Blogs und unzählige Lifecoaches weismachen wollen, sondern so, wie unser Herz es uns eigentlich immer vorgibt, wenn wir nur bereit sind, darauf zu hören. 

Wenn wir es schaffen, gut mit uns selbst zu leben, dann können wir auch auf andere achten. Und das sollten wir. Wir sollten aufeinander achten und vor allem zuhören, was andere zu sagen haben. Und dabei richtig zuhören. Ohne eigene Bewertungen und Ansprüche. Nur zuhören.

Hören wir uns an, was andere zu sagen haben, denn wir alle müssen unsere Geschichte erzählen, um leben zu können. 

3 Comments

  1. Liebes Jasminchen. Lotte ist eine entzückende Person. So sind es doch meistens die, die im Schatten sind und so vieles bewirken, weil sie immer da sind, immer zuhören, ohne zu bewerten, zu verurteilen. Und ich weiß, es gibt mehr davon. Es tut mir unendlich leid, dass ich dir in den letzten Monaten nicht mehr zugehört habe, nicht gefragt habe, wie es dir geht. Es hat Ende letzten Jahres selbst etwas meine Welt erschüttert, ich sammel mich, hab mein neu sortiert. Um es mit Worten von Hape zu sagen „Ich weine viel“. Wenn ich mich im Spiegel betrachte, sehe ich aus wie Derrick. Aber hey, es geht immer weiter. Du hast so viel durchgemacht und lässt dich nicht unterkriegen. Das ist bewundernswert. Ich mag dich sehr. Du bistceine gute Seele und deine Sicht auf die Welt, deine Umwrlt hat mich schon immer beeindruckt. Dein Humor, dein Musikgeschmack. Unschlagbar. Warte mal, ich glaube, du bist auch eine Lotte. Ich bin mir sicher. Halte die, die dich lieben, die dich schätzen, dich so nehmen wie du bist, nah bei dir. Ich weiß, das Gück hast du, solche Menschen zu haben. Ich bin nur eine Randnotiz. Ich drück dich fest. Bei mir musst du aufpassen, Vorsicht, zerbrechlich. Alles Liebe, FDwdN

    1. Du bist nicht nur eine Randnotiz, du bist eine feste Fußzeile, die mich schon sehr lange begleitet. Deine Worte bedeuten mir sehr viel. Genau wie Du. Du bist der schönste, lustigste und beste Derrick, den ich kenne. Alles wird gut und auch Hape hat mal aufgehört zu weinen. Immer wenn ich den Satz lese oder höre, höre ich ihn mit deiner Stimme und ich schmunzle immer darüber. Seit so vielen Jahren. Muss auch erstmal einer schaffen.

  2. Liebe Jasmin, was für eine wundervolle Geschichte. Ich habe euch zwei im Zug sitzen sehen….
    Und klasse von dir geschrieben! Mag ich sehr!!!!
    ☺️

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