Während das körperliche Wachstum weitestgehend schmerzfrei passiert, ist der Weg für die Seele manchmal ziemlich steinig und blutig. Warum es sich trotzdem lohnt, diesen Weg entlang zu stolpern und auch mal Stürze in Kauf zu nehmen.
Extremsituationen für Seele und Herz (na gut, auch für meinen Körper) sind wie ein guter Bekannter, dem ich immer mal wieder in die Arme laufe. Man kennt sich, man grüßt sich und meist ergeben sich unangenehme Gespräche, die man lieber nicht führen möchte.
Zu viel erlebt, zu viel gefühlt, zu viel durchgemacht. So habe ich mich lange gesehen und so fühle ich mich heute auch noch manchmal. Dann muss ich stehenbleiben und durchatmen. Vielleicht mal den Kopf unter kaltes Wasser halten und die Gedanken danach mit dem Handtuch wegrubbeln. Klingt eigentlich ganz einfach, tut aber ziemlich weh.
Gerade läuft es mal wieder etwas unrund, weil im Raum steht, dass der Krebs vielleicht wieder zurück ist. Zermürbende Wartezeiten auf klärende Untersuchungen und die nicht so ganz subtile Angst vor einer ungewissen Zukunft setzen mir enorm zu und kosten mich gerade viel Kraft. Dabei kenne ich diese Situation, ich habe sie schon sehr oft durchlebt. Meist ging es gut aus. Zweimal nicht.
Ich kenne alle Phasen dieser Anspannung. Es beginnt mit Fassungslosigkeit, dann kommt die Wut, dann die Traurigkeit, dann das Realisieren und darauf folgt erst die Angst. Den größten Teil der letzten zwei Wochen habe ich angenehm medikamentös sediert überstanden.
Ich kenne das alles. Und doch ist es jetzt anders. Früher war die nächste unausweichliche Phase die der Hoffnungslosigkeit. Eine, die auf Angst und Traurigkeit basierte und meine Depression und Angststörung so sehr nährte, dass sie immer schwerer und unüberwindbarerer wurden.
Und jetzt?
Es klingt zwischen den Zeilen vielleicht heraus: auf einmal ist etwas anders. Die Hoffnungslosigkeit hat nicht angeklopft. Stattdessen ist so etwas wie Ruhe eingekehrt, die mir hilft, mich selbst zu regulieren. Mittlerweile habe ich seit ein paar Tagen keine Beruhigungsmittel mehr genommen. In mir hat sich eine fast fatalistische Klarheit ausgebreitet, die mir zeigt, wo ich gerade stehe und worüber ich im Moment nicht nachdenken muss. Das kann ich, weil ich diese Situationen kenne. Weil ich meine Dinge mit dem Thema Tod schon lange geklärt habe und weil ich weiß, dass ich mir selbst vertrauen kann und dass ich den Weg, den ich gehen muss, schon gehen werde. Ich schaffe, es meine Angst und meine Gedanken um die Zukunft einzufangen und sie dort einzuordnen, wo sie hingehören. Und dabei bin ich erstaunlich rational – ein Zustand, der mir früher definitiv fremder war. Denn die Realität ist gerade nicht die Angst, sondern der Fakt, dass ich eben jetzt noch nicht weiß, ob und gegen was ich kämpfen muss.
Im Moment zu leben ist etwas, dass ich durch zwei Krebserkrankungen und über 30 Jahre Depressionen und Angststörung gelernt habe.
Kräftezehrende Therapien mit albtraumhaften Nebenwirkungen haben mir sehr deutlich gezeigt, dass ich meine Verfassung maximal ein paar Stunden im Voraus klar einschätzen kann. Genauso wie den nächsten Tag. Wir wissen nie, was uns der nächste Tag bringt. Egal ob wir ihn mit der Erleichterung beschließen, dass er endlich vorbei ist oder ob wir uns nur irgendwann widerwillig schlafen legen, weil alles so schön war, dass es nicht enden soll.
Wir wissen es nicht.
Und eigentlich ist das ganz gut so.
Ich weiß heute nicht, ob der Krebs wieder zurück ist. Mich der Angst hinzugeben, macht meine Situation kein bisschen besser – im Gegenteil. Sie nimmt mir die Kraft, die ich gerade brauche, um den Tag durchzustehen.
Heute hat mir jemand gesagt, dass meine Erfahrungen im Leben dazu geführt haben, dass ich über mich hinausgewachsen bin. Über diesen Satz denke ich seit ein paar Stunden nach und er hat mich dazu veranlasst, diesen Text zu schreiben. Bislang habe ich nie darüber nachgedacht, was es heißt, über sich hinauszuwachsen. Das war immer nie mehr als eine Redensart für mich.
Aber jetzt kann ich es fühlen.
Alles in meinem Leben hat dazu geführt, dass ich gewachsen bin. Ich bin nicht nur körperlich erwachsen geworden, sondern auch in mir drin zu einem Menschen herangewachsen, der so viel schaffen kann. In mir drin bin ich viel größer als mein Körper je sein könnte. Weil da so viel ist, was im Laufe dieser 46 Jahre gewachsen ist. Allem voran mein Herz, meine Seele, meine Liebe für andere Menschen und das Leben an sich. Und vor allem das Vertrauen. In mich und darin, dass alles schon so kommen wird, wie es kommen soll. Vertrauen darin, dass es immer einen Weg geben wird. Und dass alles (so abgefuckt es auch immer klingt) irgendwann gut wird.
Dieses Wachstum hat unendlich wehgetan. Es hat mir viele Narben hinterlassen, die mich daran erinnern, woran ich gewachsen bin. Aber das ist nicht mehr wichtig, denn was zählt, ist, dass ich gewachsen bin. So bleibe ich handlungsfähig und kann auf mich aufpassen. Denn trotz all dem: auf mich aufpassen muss und werde ich immer.
Aber darin bin ich mittlerweile ganz gut.