In der Blüte meines Zerfalls

Als man mich letztens am Morgen fragte, wie ich mich fühle, habe ich gesagt, wie eine alte Frau. Und das ist gar nicht mal so weit hergeholt, wenn man sieht, wie ich mich nach dem Aufstehen bewege.

Fast ein Jahr liegt meine zweite Krebserkrankung nun hinter mir. Ich stecke mitten im Verarbeitungsprozess, der sehr anstrengend, weil sehr schmerzhaft und voller Ängste ist. Da sind kleine Strohfeuer, die mein Körper produziert und die mich immer wieder auf’s Neue ängstigen. Bislang ist alles gut ausgegangen, aber es kostet eine enorme Kraftanstrengung, mich mit Angst, Arztbesuchen und dem mangelnden Vertrauen in meinen Körper auseinanderzusetzen. 

Ich weiß, dass das besser werden kann. Ich habe das alles schon einmal erlebt. 

Und doch ist alles anders. Ich war lange darauf vorbereitet, dass der Krebs wiederkommen könnte. Dass er aber an einer völlig anderen Stelle zuschlägt, habe ich nicht erwartet. Das verändert alles. Da ist keine Sicherheit mehr. Ja, Sicherheit ist ein Konstrukt, das wir in unseren Köpfen erschaffen, um mit der Realität klarzukommen – ich weiß. Rational betrachtet weiß ich sogar, dass ich vorher auch nicht sicher war. Und trotzdem ist es anders, denn ich weiß jetzt ganz genau, dass ich es nicht mehr bin und ich kann es durch Narben an meinem Körper und meiner Verfassung mehr als sichtbar belegen. Das macht mir Angst. 

Denn diese Angst ist nicht rational. Das war sie nie und wird sie nie sein. Sie macht, dass wir irrational handeln. Sie macht, dass wir die Kontrolle verlieren. Sie kontrolliert uns und wir damit nichts mehr in unserem Leben.

Dennoch ist sie nicht unser Feind. Sie schützt uns auch. Durch die Angst bin ich momentan vielleicht ein bisschen wachsamer, kläre Dinge schneller ab, um Gewissheit zu haben. Dabei achte ich darauf, einen gesunden Grat zwischen Angst und Kontrolle zu halten. Mich von Kontrollverlust und Schutz nicht allzu sehr leiten zu lassen. Gelingt mal mehr und mal weniger gut. Aber in einigen Fällen schon und ich habe gelernt, dass das manchmal auch schon ein Erfolg ist, auf den ich stolz sein kann. 

Ich weiß, dass Normalität nur eine Frage der Zeit und der Geduld ist.

Und doch ist es anders. Die erneute Krebserkrankung zehn Jahre nach der ersten löst leider auch mehr Beeinträchtigungen aus. Denn der Körper ist eben in der Zeit dazwischen auch um zehn Jahre gealtert. Er braucht nun länger, um sich zu erholen, selbst von kleinen Dingen – einer durchgefeierten Nacht, Schlafmangel, Stress, was auch immer. Und erst recht von einer sehr kräftezehrenden Krebstherapie.  

Nachdem mich mein Körper eine Zeitlang in Sicherheit gewogen und mir Erholung vorgegaukelt hat, zeigt er mir mittlerweile ganz klar seine Grenzen auf. Ich habe jeden Tag Schmerzen. Meine Gelenke sind steif, meine Knochen tun weh.
Egal, wie viel ich schlafe, ich bin dauererschöpft. Fatique nennt sich das.
Meine Konzentration scheint irgendwo in den lebensrettenden Infusionen abgesoffen zu sein. Wenn ich mir nicht für alles Erinnerungen schreibe, bin ich verloren. Wenn ich daran denke, mir eine Erinnerung zu schreiben. 

Das alles ist sehr anstrengend. Und ich habe Angst, dass es nicht mehr weggeht. So gut es geht, versuche ich dagegen zu steuern. Bewege mich, mache Sport, achte auf meine Ernährung, tue Dinge, die mir gut tun. Und trotzdem läuft es (und ich) gerade unrund. Das frustriert. 

Nach zwei Krebserkrankungen kann ich sagen, dass eine Chemotherapie und ihre Nebenwirkungen blanker Horror sind. Ahnt man ja auch irgendwie. Aber der Albtraum beginnt danach. Wenn alles überstanden ist. Denn während um mich herum alle denken, dass ich stark und gesund bin, weil ich dem Krebs erneut die Stirn geboten habe, schleppe ich mich mühsam durch den Tag. Mit einem angeschlagenen Körper und einer tief verwundeten Seele. 

Die Unterstützung ist noch da, aber mein Umfeld ist leiser geworden. Weil der aktive Kampf nicht mehr sichtbar ist. Der normale Alltag ist für uns alle wieder da, aber wie sehr ich kämpfe, um ihn zu meistern, das bleibt bei mir. Das ist völlig okay und trotzdem anstrengend. Ich bin nicht der Typ, der gut aktiv um Hilfe bitten kann. Es würde auch nichts nützen, denn niemand kann mir mein Leben abnehmen. Oder meine Schmerzen. Oder meine Angst. 

Sich anpassen an die neue Situation ist ein Mechanismus der Trauerbewältigung, wie ich gerade in meiner Ausbildung zur Trauerbegleiterin lerne. Das ist nicht nur bei dem Verlust einer geliebten Person der Fall. Sondern auch beim Verlust der Normalität nach einer schweren Erkrankung. Denn es ist genau das: der Verlust der Normalität, des Lebens, wie man es vorher gewöhnt war. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Weder der Körper, noch die Gedanken, erst recht nicht die Seele. Alles wurde im Schleudergang auf links gedreht, manches ist eingelaufen, manches verfärbt. Das ist die neue Normalität. 
Ich versuche, mich so gut es geht, an diese neue Normalität anzupassen. Aber auch das kostet erst einmal Kraft, die wieder gefunden werden will. 

Ich weiß, ich werde sie finden. Irgendwo. Vermutlich ganz langsam und mit steifen Gelenken, aber beim tausendsten Aua ist da vielleicht wieder ein bisschen Kraft. Oder Mut. Oder Zuversicht. 

Denn ich weiß, dass alles besser werden kann. Ich habe das schon einmal erlebt. 

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