Verlorensein

Viele Dinge im Leben können fatal sein. 

Menschen, Situationen, Gefühle, zu viel Alkohol und oft auch alles zusammen. Zu viel Alkohol entsteht oft in Konsequenz der anderen Dinge. Trinken und feiern bis kein Gefühl mehr da ist; man Menschen und Situationen zwar nicht vergessen, aber eben kurz ausblenden kann. Bis nur noch ein Rauschzustand übrig bleibt, der irgendwann den Schlaf bringt. Keinen erholsamen Schlaf natürlich. Möglicherweise muss du erst durch das Tal der Übelkeit durch, bis du dann in irgendeinen traumlosen Zustand verfällst, der fast Bewusstlosigkeit grenzt. 

Aber wenn du dich in Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen verloren hast, dann ist es ein guter Zustand. Zeitweise jedenfalls. Denn Bewusstlosigkeit bedeutet auch, dass du dir der Dinge, die dich im Inneren so sehr schmerzen gerade mal nicht bewusst bist. Sie sind irgendwo im Nebel verschwunden und es ist dir in diesem Moment egal, ob sie wieder auftauchen und dir Angst machen werden.

Der Tag danach bringt dann aber nur den Vorschlaghammer, der mit einem riesigen Kater daherkommt und dir auch alle Gedanken und Gefühle mit voller Wucht vor den Kopf schlägt, bis alles wieder in deinem Herzen angekommen ist. Alkohol ist wie die Nacht, er wiegt dich nur kurz in trügerischer Sicherheit. Ganz sicher keine Dauerlösung, denn er macht dazu noch hässlich und bringt weitere Probleme, die niemand haben möchte. 

Aber manchmal ist es genau diese Kürze, die du gerade brauchst. Der Moment im vermeintlichen Frieden – aus der alkoholisierten Betäubung oder aus was auch immer heraus. Du bist abgelenkt und alles, was dich von deinem eigenen Kopf freihält ist in dem Moment gut. 

Denn das Fatalste im Leben kann manchmal der eigene Kopf sein. 

Er quält dich immer wieder auf’s Neue mit Erinnerungen, die du nicht mehr ändern kannst; mit Menschen, die du verloren hast; mit Gefühlen, die du nicht mehr fühlen willst und Ängsten, die du nicht bekämpfen kannst. Das alles prasselt ungefiltert auf dich herein. Deine Beine fangen an zu wackeln und du knickst beim Gehen immer wieder ein. Die Schritte werden unsicher, die Arme kraftlos und der Blick trübt sich immer mehr. Das Gefühl, alles im Leben verloren zu haben und auch künftig alles wieder zu verlieren wird übermäßig. 

Es ist schwer zu erklären, wie es sich anfühlt, sich selbst zu verlieren. In sich selbst. Allein dieser Satz macht für jemanden, der normal denkt, kaum Sinn. 

Ich habe mich in mir selbst verloren. 

Aber er macht Sinn. Denn wo solltest du dich sonst verlieren? Es ist selten, dass man sich in einem anderen Menschen verliert. Denn am Ende spiegelt er vermutlich nur gewisse Dinge, die in dir selbst wohnen. Du kannst dich in Gefühlen verlieren, aber auch die entstehen in dir selbst. Du kannst dich in Situationen verlieren, aber du verarbeitest sie tief in dir drin. Der Ursprung liegt also in dir selbst. 

Etwas zu verlieren ist schrecklich. Sich selbst zu verlieren ist nicht zu ertragen.

Wenn die Beine wackelig, die Arme schwach und der Blick getrübt ist, wird es schwer, den Alltag zu meistern. Unsicherheit wird zum bestimmenden Gefühl. Unsicherheit, was die eigene Kraft, Wirkung und Können angeht. 

Vor allem im Umgang mit anderen Menschen. Sie einzuschätzen wird immer schwieriger.

Wie ist das jetzt gemeint?

Nervt dein depressives Verhalten schon?

Mutest du zu viel zu?

Wie kannst du vermeiden, dass man sich Sorgen um dich macht? 

Ob es auffällt, wenn du Normalität vorgaukelst, wo keine ist?

Was will dieser Mensch gerade von dir? 

Schuldgefühle gegen mit der Unsicherheit Hand in Hand. Du willst nicht das ständige Sorgenkind sein. Du willst lieber wieder wie früher sein. Die, die immer lustig ist, stark wirkt, mit der man Spaß haben kann. Und manchmal klappt das auch. Zum Beispiel an Abenden, an denen der Drang nach kurzzeitiger Selbstzerstörung größer ist, als das heulende Elend auf dem Sofa. Da ist dann auch sowas wie Spaß dabei. Was schon fast positiv zu werten ist, denn da ist ein kurzer Moment, in dem wieder ein bisschen Kraft da ist. Nicht sehr gesund, klar. 

Depression heißt ja auch nicht, dass du jeden Tag das Gefühl hast, dass du dich am liebsten auflösen möchtest.

Aber trotzdem eben sehr oft. Denn die Depression bestimmt, wo es langgeht. Wenn es ihr gefällt, dann wirft sie dich nach einem Tag Stärke auch wieder um. Und sie verstärkt das In-sich-selbst-Verlieren jeden Tag mehr. Nichts ist mehr wie früher. Und du glaubst auch nicht daran, dass es jemals wieder so sein kann. Egal, ob es ein guter oder ein schlechter Tag ist. Auch wenn du das alles schon einmal erlebt hast. 

Wo soll der Optimismus zu finden sein, wenn du dich nicht mal selbst finden kannst? 

Alles, was noch da ist, ist Angst, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Die sind noch da. 

Und du weißt immer genau, wo sie sind. 

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