Die Menschheit hat den Verstand verloren

So ist der Titel des Buches von Astrid Lindgren, das ich gerade lese. Wir alle haben diesen Satz in den letzten Jahren vermutlich täglich gedacht. Spoiler: Das hat sich seit Astrid Lindgren bis heute nicht geändert und ganz wahrscheinlich wird es das auch so schnell nicht. Wenn überhaupt.

Die aktuellen Ereignisse in der Welt fordern uns alle sehr und stellen in ihrer neuen Dimension unsere in den vergangenen Jahren angewachsene Seelenhornhaut vor neue Herausforderungen. Krisen hat es in dieser Welt schon immer gegeben, zu jeder Zeit. Irgendwo auf der Welt brennt immer die Luft. Irgendwo in der Welt will immer jemand mehr, zu jedem Preis, egal was es kostet. Gerade ist alles nur etwas näher an uns herangerückt, als wir es bisher gewohnt waren und dank der vielfältigen Berichterstattungen und Diskussionen verändert sich unsere Wahrnehmung. Was wir früher mit dem Ende der Tagesschau schneller in den Hintergrund rücken konnten, ist nun immer da und beherrscht teilweise unsere Gedanken und Gespräche über den ganzen Tag. Nicht selten nehmen wir die Schlagzeilen und Bilder mit in unseren Schlaf, um am nächsten Tag gerädert die nächste Informationsflut aufzunehmen.

Das Wort „Hass“ fällt gefühlt öfter, als „Liebe“. Man sagt, Hass treibt Menschen dazu an, Böses zu tun. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob das so in Gänze stimmt. Also, ob Hass der entscheidende Antrieb ist. Hass ist ein Gefühl, das auf Liebe gründet. Er entsteht meist, wenn die Liebe – für was auch immer – bedroht ist. Ich denke aber nicht, dass der Hass das schlimmste Gefühl ist. Gleichgültigkeit ist meiner Meinung nach schlimmer. Gemein haben beide, dass keine dieser Emotionen etwas Gutes hervorbringen kann. Leider ist das den Menschen, die sie empfinden nur sehr selten bis gar nicht bewußt. Womit das Elend dann seinen Lauf nimmt.

Die aktuelle Situation, in der sich ein eiskalter Despot seinen wahnhaften imperialistischen Allmachtsphantasien hingibt, gründet meiner Meinung nach nicht auf Hass, auch wenn ich zuweilen das Gefühl habe, diesen in seinen Augen zu sehen. Da ist etwas anderes. Narzissmus höchstwahrscheinlich, darüber hinaus würde ich ihn aber keinesfalls als „irre“ bezeichnen, auch wenn seine Rhetorik in den letzten Tagen eindeutig in diese Richtung ging. Trotzdem würde ich hier nicht von einer Geisteskrankheit sprechen. 

Das Problem ist meiner Meinung nach viel allgemeiner und vor allem globaler und in allen Schichten zu finden. Es ist die Macht. Denn nicht nur der Hass richtet diese Welt zugrunde, sondern auch Macht in all ihren Vorstellungen und Ansprüchen. Hass ist unter anderem eine Konsequenz der Macht. Macht wiederum basiert aber niemals auf Respekt und an dem mangelt es gewaltig in unserer Zeit. Macht ist ein Überlegenheitsgefühl, ein sich über andere Menschen Erheben und sie wirkt dadurch isolierend nach. Sie berauscht, fast wie eine Droge. Macht wird niemals gestillt. Gegen Machthunger gibt es keine Möglichkeiten. Jeder (überzogene) Machtanspruch führt unweigerlich in großes Leid. Beispiele dafür gibt es viele. Sie sind überall zu finden, in jeder Gehaltsstufe, politischen Tätigkeit und ganz offen seit Jahrhunderten in der katholischen Kirche. 

Der fehlende Respekt im Machtanspruch ist genau das, was unsere Welt zerstört. Denn genau daran krankt unsere Gesellschaft. Es fehlt der Respekt auf allen Ebenen – für andere Menschen, Tiere und deren Wohlergehen, für die Natur und damit für unsere Umwelt im ganz Allgemeinen. Für so viele Menschen zählt der Eigenerhalt und die Umsetzung der eigenen Ziele und Wünsche um jeden Preis so viel mehr als ein friedliches und respektvolles Miteinander auf dieser Welt. Egoismus wird in unbedingter Art und Weise zur Schau gestellt und durchgesetzt. Selbst bei Menschen, die denken, dass sie gar nicht so ticken. Dennoch fällt es vielen offenbar schwer, andere Menschen so sein zu lassen, wie sie sind. Aber das sollten wir unbedingt, solange sie niemandem schaden. Aber das Bewerten und Verurteilen anderer ist allgegenwärtig und dank der sozialen Medien wird jeder, der sich dort umtreibt, damit konfrontiert, ob er möchte oder nicht. 

Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das alles abstößt. 

Das Internet und die sozialen Medien machen möglich, dass wir sämtliche Vorkommnisse in der Welt in Echtzeit mitgeteilt bekommen, inklusive der individuellen Bewertung des Mitteilenden. Für die Filterung sind wir selbst zuständig. Bei einer 24/7-Beschallung durch alle Medien, die uns zur Verfügung stehen, fällt es manchmal schwer, hier eine für sich gesunde Grenze zu ziehen. Oft merken wir vielleicht erst zu spät, ob wir etwas noch aushalten können oder nicht.

Wir können dem Elend dieser Welt nicht entgehen und vielleicht sollten wir das auch gar nicht. Denn jeder Mensch mit einem Fünkchen Empathie kann dann gar nicht anders, als zu versuchen, die Welt ein bisschen besser zu machen. Aber wir müssen uns schützen, wir müssen einen Weg finden, nicht an der Rücksichtslosigkeit anderer Menschen zu zerbrechen. Denn machtbezogene Menschen werden keine Rücksicht nehmen. Im Gegenteil, sie nehmen und zerstören. Und es gibt nichts Schlimmeres, als die Zerstörung eines Menschenlebens, egal ob physisch oder psychisch.

Zwei Jahre Pandemie, etliche Katastrophen, Anschläge, fassungslos machendes politisches Weltgeschehen und eine subtile Angst vor den klimatischen Bedingungen der Zukunft haben ihre Spuren auf unserer Seele hinterlassen. Und das wird es weiter tun. Wir müssen immer mehr für uns sorgen, damit wir gut durch unsere Zeit kommen. Denn die Zukunft wird höchstwahrscheinlich nicht ruhiger werden. Wir müssen einen Weg finden, damit umzugehen und nicht daran zu zerbrechen. Das ist eine gewaltige Aufgabe für uns alle, weil wir erst einmal lernen müssen, einzuschätzen, was wir aushalten können und was nicht. Dem „Digital Detox“ haftet manchmal ein bisschen ein Lifestyle-Mode-Muff an, aber im Grunde genommen, kann es unser Leben retten. Oder wer es weniger dramatisch mag: es kann uns beizeiten den Arsch retten. Denn bei einer dauerhaften Beschallung mit Katastrophen, Bewertungen, Meinungen und schlimmstenfalls Hass und Häme kann irgendwann auch kein Pinguinvideo mehr helfen. Manchmal muss man den Stecker ziehen, damit das System wieder neu anlaufen kann.

Die Menschheit hat den Verstand verloren und das schon sehr lange. Ich bezweifle stark, dass sie ihn in Gänze wiederfinden wird. 

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